Zen-Ästhetik,
Henri Cartier-Bresson und der entscheidende Augenblick
von Jürgen
Gad
Es
gab eine Reihe von Fotografen, deren Werk mit der Zen-Philosophie
in Verbindung gebracht wurde. Der berühmteste unter ihnen,
und gleichzeitig einer der wirkmächtigsten Fotografen überhaupt,
war wohl Henri Cartier-Bresson (1908-2004).
Er formulierte das Prinzip des entscheidenden Augenblicks, in dem
der Fotograf, durch lange Übung geschult, mithilfe einer rein
intuitiven Einsicht, auf den Auslöser drückt und die flüchtige
Wirklichkeit so festhält, dass sowohl der entscheidende Augenblick,
als auch die Komposition des Bildes zueinander in Gleichgewicht
gebracht wird.Cartier-Bresson drückte es selber, in seinem
heute berühmten Text von 1952 (Der entscheidende Augenblick)
so aus: Von allen erdenklichen Ausdrucksmitteln fixiert allein
die Fotografie einen bestimmten Augenblick. Wir beschäftigen
uns mit Dingen, die wieder verschwinden und die man, wenn sie erst
verschwunden sind, unmöglich wieder zum Leben erwecken kann...Die
Bildkomposition muss uns zwar ständig beschäftigen, doch
im Augenblick des Fotografierens kann der Gedanke an sie nicht mehr
als intuitiv sein, denn wir haben es ja mit flüchtigen Erscheinungen
zu tun, an denen sich alle Beziehungen fortwährend ändern.
Dieses intuitive Vorgehen, das ausschließlich durch lange
Übung verwirklicht werden kann, wurde mit der Philosophie des
Zen in Verbindung gebracht. Liest man den Text weiter, dann kann
man erstaunt feststellen, dass sich Cartier-Bresson durchaus bewusst
war, dass der Fotograf nicht als Subjekt einer Wirklichkeit gegenüber
steht und damit die Welt in Subjekt und Objekt zerfällt, sondern
dass er und sein Tun ein Teil von ihr ist. So schreibt er:
Indem wir leben, entdecken wir uns selbst und gleichzeitig die Außenwelt,
die auf uns einwirkt, auf die wir aber auch unserseits einwirken
können. Zwischen dieser inneren und äußeren Welt
muß ein Gleichgewicht geschaffen werden, die beiden Welten
bilden in einem immerwährenden Dialog ein einziges Ganzes,
und den Begriff davon müssen wir mitzuteilen suchen.
Dennoch musste er, um über seine Philosophie schreiben zu können,
die Welt dualistisch aufteilen, in die flüchtige Wirklichkeit
und ein Abbild, das Foto, indem diese Wirklichkeit fixiert ist.
Die Vorstellung, dass das Foto ein Abbild der Wirklichkeit ist,
ist aber, aus zenbuddhistischer Sicht, eine Anhaftung an die für
uns Europäer typische reduktionistische und dualistische Sichtweise,
die im wesentlichen noch der idealistischen Ästhetik der griechischen
Antike anhängt. Das Foto als Abbild der Wirklichkeit beherrscht(e)
die theoretische Diskussion über die Fotografie, seit sie erfunden
wurde. Sie äußert sich u. a. in der Vorstellung über
eine objektive Beschreibung oder einer subjektiven Wiedergabe
der Welt mithilfe der Fototechnik. Was aber völlig unabhängig
von der theoretischen Diskussion bleibt, ist, dass das Foto einen
Augenblick der vergänglichen Wirklichkeit fixiert. Diese Fixierung
macht bis heute die ungebrochene Faszination der Fotografie aus.
Die zweite Unumgänglichkeit, also sozusagen ihr zusätzliches
Charakteristikum, ist, dass der Fotograf im Foto mithilfe des Suchers
einen zweidimensionalen Ausschnitt der Wirklichkeit zeigt.
Die Wirklichkeit selbst ist aber ohne Begrenzung, also vieldimensional
und gleichzeitig flüchtig, bzw. ständig in Bewegung, man
kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen oder anders gesagt,
alles was eine Form hat ist dem Werden und Vergehen unterworfen.
Wie kommt es daher, dass gerade das Foto, indem die Wirklichkeit
scheinbar angehalten wird, als Abbild der Realität angesehen
wird? Hierzu noch ein kleines zusätzliches Gedankenexperiment:
Angenommen unser Hauptsinnesorgan als Menschen wäre nicht der
Gesichtssinn, sondern das Riechen, Schmecken oder der Tastsinn.
Fühlt sich das Foto an wie die Wirklichkeit, schmeckt oder
riecht es so? Wohl kaum!
Wie kann es sein, dass Generationen von Fototheoretikern diese simplen
Widersprüche übersehen haben? Der Grund hierfür ist,
dass in der idealistischen, metaphysischen Sichtweise des reduktionistischen
Denkens, die für die westliche Weltsicht charakteristisch ist,
die Welt in dualistische Gegensatzpaare zerfällt, hier z. B.
die Wirklichkeit und dort das Abbild. Bei dieser Denkweise muss
mit feststehenden Begriffen gedacht werden, außerdem kommt
die physische Verfasstheit des Denkers selbst nicht
in Sicht, der Mensch, bzw. sein ich, ist in dieser Sichtweise eine
Art blinder Fleck, er ist so statisch wie seine Begriffe. Was bleibt
aufgrund dieser Einsicht über das Foto zu sagen? Die Idee des
Fotos als Abbild, spiegelt nicht die Wirklichkeit wider, sondern
die spezifische Art und Weise mithilfe von Denken, die lebendige
Wirklichkeit in tote Dinge (statische Begriffe) zu untergliedern.
Die Sprache selbst und damit das Denken, das die Welt in dualistische
Begriffe teilt, bedingt, bzw. erzwingt diese Vorstellungen. Die
Frage, was ist ein Foto, ist falsch gestellt. Stellt man die Frage
so, erhält man nur tote Begriffe, die mit der lebendigen Wirklichkeit
nichts zu tun haben. Liest man neuere Literatur über Fototheorie
oder allgemeine Bildwissenschaften, stößt man auf die
Aussage, dass nichts, also auch kein Foto, irgendetwas in sich selbst
ist. Diese Einsicht wird hier als neue Erkenntnis hervorgehoben,
tatsächlich entspricht sie aber der buddhistischen Philosophie
und ist daher über 2000 Jahre alt.
Mit dieser Aussage sind wir nun beim Zen bzw. der Zen-Ästhetik
angelangt, sie zeigt, dass die sie hochaktuell ist.
In der Zen-Ästhetik, gibt es keine Wirklichkeit, die unabhängig
vom Zen-Künstler besteht, sondern Wirklichkeit, Kunst und Leben
sind eins. Die Zen-Kunst wird dazu benutzt diese Einsicht zu kommunizieren.
Wie kann nun aber die Zen-Ästhetik, die auf den anderen Seiten
dieses Internetauftritts dargestellt wurde, auf die Fotografie übertragen
werden? Hier kann man an die oben wiedergegebene Aussage von Cartier-Bresson
anknüpfen. Indem wir leben..., der in seiner Ästhetik
des entscheidenden Augenblicks tatsächlich sich sehr nahe an
die Zen-Ästhetik angenähert hat. In der Wirklichkeitssicht
des Zen gibt es nur das lebendige Hier und Jetzt, das in jeden Moment
eine neue Welt entstehen lässt. Diese jeweils neue Wirklichkeit
besteht nun aber nicht unabhängig von uns, sondern existiert
in gegenseitiger Verschränkung. Sie bringt durch die Tätigkeit
des Menschen, also z. B. das Fotografieren, jeweils eine neue Realität
hervor, von der wir ein Teil sind. Durch diese Sichtweise ist der
Dualismus zwischen dynamischer Wirklichkeit und dem statischen Abbild
(Foto) aufgehoben. Die Zen-Ästhetik verweist mithilfe ihrer
Kunstwerke auf diesen dynamischen Vorgang und widerspricht energisch
der Vorstellung, dass die Wirklichkeit mit Hilfe von Begriffen eingefangen
werden kann. Streicht man im oben genannten Zitat von Cartier-Bresson
das Wort Begriff und ersetzt ihn durch Erkenntnis, dann ist jede
künstlerische Tätigkeit, also auch Fotografie, einmal
ein Akt der Selbsterkenntnis, als auch eine daraus folgende Handlungsanweisung,
dass Kunst und Leben ein und dasselbe sind. Fotografische Selbsterkenntnis
bedeutet dann die Kommunikation dieser Selbsterkenntnis, jenseits
der Subjekt-Objekt-Spaltung, mithilfe des Fotos. Selbsterkenntnis,
jenseits der Subjekt-Objektspaltung, ist immer auch Fremderkenntnis
und wird intuitiv gewonnen, durch die Tätigkeit des Fotografierens
selbst. Es gibt keinen anderen Weg in der Fotografie, noch so viele
theoretische Erkenntnisse können die Praxis nicht ersetzten.
In der Fotografie nennt man diese spezifische Erfahrung: sehen
lernen. Das Charakteristikum der Zen-Ästhetik ist: Das
empirische Erkennen, ist das ästhetische Erkennen. Um
diese sehr theoretische Aussage praktisch zu erläutern, kann
folgendes gesagt werden: Wenn du wissen willst wie ein Apfel schmeckt,
dann musst du ihn essen. Aus der Einsicht des Zen, dass nichts,
also auch kein Foto, irgend etwas in sich selbst ist, sondern nur
immer relational, im jeweiligen Kontext, gesehen werden kann, ergibt
sich auch, dass die ästhetische Qualität des Fotos erst
im Auge des jeweiligen Betrachters entsteht. Begriffliches,
d. h. metaphysisches, Urteilen, verhindert nur die unmittelbare
Einsicht bzw. Empfindung, die das Kunstwerk beim Betrachter auslöst
und beschmutzt somit den höchsten ästhetischen Wert, das
lebendige Erleben der Wirklichkeit, denn Wirklichkeit ist immer
einmalig und unwiederholbar und entsteht von Moment zu Moment im
gegenwärtigen Augenblick.
Zen drückt
diese Einsicht folgendermaßen aus:
Ein Mönch
fragte den Zen-Meister Joshu in allem Ernst: Welchen Sinn
hat das Kommen des Patriarchen* aus dem Westen? Joshu antwortete:
Der Eichbaum da im Garten.
*Mit dem Patriarchen
ist Bodhidharma gemeint, der den Zen-Buddhismus von Indien nach
China brachte. Die Frage ist gleichbedeutend mit der Frage: Was
ist das Zen?
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Bilder und Text © Jürgen Gad 2010
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