Zen,
das substantielle Ich und die Wirklichkeit.
von Jürgen Gad
Im Buddhismus,
und damit auch im Zen, gibt es drei sogenannte Geistesgifte: Gier,
Hass und Verblendung, wobei Gier und Hass das Ergebnis von Verblendung
sind. Unter Verblendung versteht der Buddhismus die gewöhnliche
Wirklichkeitssicht, in der die Welt in ein Subjekt und ein Objekt
(Subjekt-Objekt-Spaltung) geteilt ist, wobei sowohl das Subjekt
als auch das Objekt, als Substanz im metaphysischen Sinn gedacht
wird. In dieser Weltsicht, die auch als Illusion bezeichnet wird,
steht das Ich dem Nicht-Ich als das Andere gegenüber, wobei
angenommen wird, dass beide durch ein jeweils eigenes unveränderliches
Wesen (Substanz) gekennzeichnet sind. Zen bedeutet in Übersetzung
Meditationsbuddhismus, d. h. seine Wirklichkeitssicht ist das Resultat
von meditativen Übungen, mit deren Hilfe die gewöhnliche
dualistische Weltsicht überwunden und die Welt als dynamisch
und unteilbares (holistisch) Ganzes erfahren werden kann.
Zen zielt mithilfe von verschiedenen praktischen Methoden darauf
ab, dem Übenden durch Selbsterkenntnis, die eigene unbewusste
Verblendung vor Augen zu führen, um ihn von den daraus folgenden
Übeln der Gier und des Hasses zu befreien. Praktisch gesehen
ist Zen eine Kultivierung des Bewusstseinszustands von mu-shin,
was direkt übersetzt soviel wie leerer- bzw. Nicht-Geist
bedeutet. Die Übungen des Zen, sei es nun Sitzmediation oder
Meditation in Bewegung, wie z. B. die Tee-Zeremonie,
zielen darauf ab, die gewöhnliche Wirklichkeitssicht zu überwinden,
in der das Bewusstsein (Geist) und die gerade ausgeübte Tätigkeit
auseinanderfallen und die Welt daher in ein Subjekt und ein Objekt
gespalten wird. Das wird erreicht, indem sich der Geist ganz vom
Nachdenken befreit, indem jedes ungewollte Nachdenken oder ein Abschweifen
des Geistes unterbunden wird. Der Übende konzentriert sich
hingegen völlig auf die jeweilige Tätigkeit selbst. Leerer
Geist meint also das bewusste Abschneiden (kire)
des Denkens, um sich ganz auf die gerade ausgeübte Tätigkeit
einlassen zu können. Das Denken wird quasi weggeworfen und
der Geist damit von intellektuellem Ballast befreit, damit er sich
dem öffnen kann, was gerade in diesem Moment und an diesem
Ort wirklich geschieht. Zen geht davon aus, dass, wenn eine Tätigkeit
mit vollem Bewusstsein achtsam ausgeführt wird, die dualistische
Spaltung des Bewusstseins nicht vorliegt, sondern erst dann einsetzt,
wenn über das gerade erlebte nach-gedacht wird.
Versucht man die während der Meditation ausgeübte konkrete
Tätigkeit mithilfe von Denken und Sprache nachträglich
zu analysieren, dann erzeugt erst dieser Vorgang selbst die Trennung
in Subjekt und Objekt, denn die Sprache muss notwendig ein Subjekt,
ein Objekt und Begriffe benutzen, um funktionieren zu können.
Mit anderen Worten gesagt, erst die Sprache und das Denken teilen
die Wirklichkeit in ein Ich und ein Nicht-Ich, diese Aufteilung
ist somit eine Illusion des diskursiven Denkens, was auch bedeutet,
dass das Zen, das sich sagen lässt, nicht das wirkliche Zen,
sondern nur Philosophie über Zen ist. Die Wirklichkeit selbst,
die in der Meditation erfahren werden kann, ist hingegen ein dynamisches
und unteilbares Ganzes.
Wie äußert
sich nun dieses unteilbare Ganze in der Meditation konkret?
Jeder, der auch
nur ein einziges Mal Mediation geübt hat, kann bestätigen,
dass es anfangs nicht möglich ist, das Bewusstsein über
eine längere Zeit ganz auf die Tätigkeit zu konzentrieren.
Beherrscht der Praktizierende durch jahrelange Übung hingegen
mu-shin, dann fallen Tätigkeit und Bewusstsein nicht mehr auseinander,
sondern werden als eine unteilbare Einheit empfunden. Übt der
Praktizierende z. B. Sitzmeditation und der Atem ist dabei das Meditationsobjekt,
dann kann der Vorgang etwa folgendermaßen beschrieben werden.
Der Geist (Subjekt) ist darauf ausgerichtet das Objekt (Atem) zu
beobachten. Dieser Dualismus wird dann überwunden, wenn die
Beobachtung ganz in der Tätigkeit aufgeht. Statt der Geist
beobachtet das Objekt, ist dann das Bewusstsein ganz mit der Tätigkeit
ausgefüllt, hier das Atmen. In diesem Bewusstseinszustand existiert
dann die Zweiteilung nicht mehr und das Ich-Bewusstsein ist aufgehoben
und damit auch die Trennung in Ich und Nicht-Ich, der Meditierende
erlebt sich selbst als dynamisch Ganzes im Gegenwärtigen. Im
Buddhismus wird dieser Bewusstseinszustand u. a. als Absolutes Samadhi
bezeichnet. Dieser Bewusstseinszustand ist aber nicht mit der sogenannten
Erleuchtung gleichzusetzen, sondern nur eine Zwischenstufe zur eigentlichen
Erleuchtung. Trifft der Praktizierende nun außerhalb der Sitzmeditation
auf die Welt, dann kann es gelingen, falls mu-shin aufrecht erhalten
werden kann, dass das leere Selbst (mu-shin) sich in
allem Seienden gewahrt. Das Bewusstsein des eigenen Selbst erneuert
sich dabei von Moment zu Moment, nun völlig dynamisch, im gegenwärtigen
Jetzt. Diesen Bewusstseinszustand bezeichnet der Buddhismus als
Positives Samadhi, bzw. wunderbares Sein, er geht einher mit der
sogenannten Erleuchtung (japanisch satori).
Das substanzielle und daher statische Ich- Bewusstsein, das die
Wirklichkeit in ein Subjekt und Objekt spaltet, hat in der Erleuchtung
aufgehört zu existieren. Diesen Bewusstseinszustand nimmt Zen
für die Wirklichkeit, Wirklichkeit ist für Zen, Werden
in gegenseitiger Abhängigkeit, die dualistische Trennung hingegen
nur eine Illusion. Will man das Erlebte etwa in Worte fassen, dann
könnte man sagen, das Selbst ist ein Teil des Ganzen, so wie
das Ganze ein Teil des Selbst ist. Beide zusammen bilden ein dynamisches
und unteilbares Ganzes im Gegenwärtigen. Wirklichkeit ist also
nichts, das uns gegenübersteht, sondern entsteht von Moment
zu Moment und ist daher immer wieder neu und unwiederholbar. Bildlich
kann man sich das Teil und das Ganze als vieldimensionales Netz
vorstellen, wobei der Knoten einem Ding (mit einem unveränderlichen
Wesenskern) in der gewöhnlichen Weltsicht entspricht. Der Knoten
hat aber keinen substanziellen Wesenskern, sondern ist nur das Ergebnis
der zahlreichen Verbindungen, dröselt man den Knoten auf, findet
man darin Leere. Zen sagt daher: Was Form ist, ist leer,
was leer ist, ist Form. Diese dualistische Trennung tritt
sogar dann in die Welt, wenn der Erleuchtete selbst über den
vorher erlebten Bewusstseinszustand im Positiven Samadhi nach-denkt
und ihn zu kommunizieren sucht! Das Nachdenken und die Sprache erzwingen
diese dualistische Trennung. Aus diesem Grund sagt Zen, dass Worte
und Begriffe nur Zeiger auf die Wirklichkeit sind, wie ein Finger,
der auf den Mond deutet, sie sind aber nicht der Mond. Die Wirklichkeit
selbst ist daher mit Worten nicht sagbar.
Ein Zen-Meister drückte das oben gesagte gegenüber seinen
Schülern, die glaubten sie könnten das Zen mithilfe von
Worten finden, so aus: Ihr seid alle Trester-Fresser.
Da die Wahrheit des Zen nicht mithilfe von Worten zu sagen ist,
bevorzugen die Zen-Meister oft eine paradoxe Formulierung, ein bekanntes
koan sagt es folgendermaßen:
Wie heißt der wahre Mensch ohne Rang und Namen?
Die Wahrheit des Zen ist also unmittelbar authentisch, sie kann
nur von jedem einzelnen Übenden praktisch erfahren werden und
nur wenn er sie erfahren hat, kann er sie auch bezeugen. Das Zen
ist also nicht, wie in anderen Religionen ausschließlich an
die Schriften des Religionsstifters (hier des historischen Buddha)
gebunden. Was wiederum bewirkt, dass sich das Zen, mit jeden einzelnen
Menschen, der es lebenswirklich erfahren hat, erneuert. Es ist also
absolut unsinnig, ja geradezu grotesk, sich mithilfe von Worten
über die Wahrheit des Zen zu streiten. Zen sagt hierzu: Wenn
du den Buddha triffst, dann töte den Buddha. Daher
kann Zen, solange es authentisch bleibt, auch nicht in toten Traditionen
erstarren.
Um wieder auf
den Ausgangspunkt dieses Essays zurückzukommen, - Gier und
Hass als unausweichliche Folge des substanziellen und damit statischen
Ichs. Das substanzielle Ich nimmt die Worte und Begriffe, die es
mithilfe des dualistischen Denkens gewonnen hat, für real.
Im Buddhismus wird dieser Umstand als Anhaftung
bezeichnet. Als Folge davon definiert und identifiziert sich dieses
Ich selbst mithilfe dieser Begriffe und sucht sich gegenüber
anderen Menschen abzugrenzen. Da diese Begriffe aber nur Illusionen
sind, sind sie in der Diskussion nicht lösbar und ein endloser
Streit (bzw. Hass) ist unausweichlich, wenn sie für real erachtet
werden, weil der Geist daran anhaftet. Zen wurde auch als Mörder
der Philosophie bezeichnet, da seine Wirklichkeitssicht auf einer
nonverbalen Erleuchtung beruht. Die westliche Philosophie hat es
auch nach über 2000 Jahren nicht geschafft mit Hilfe des Denkens
endgültige Wahrheiten zu formulieren und rätselt bis auf
den heutigen Tag, warum das so ist. Zen gibt darauf eine einleuchtende
Antwort.
Gier ist die andere
Seite des substanziellen Ichs. Das Selbst des Zen-Meisters gewahrt
sich im Bewusstseinszustand von wunderbarem Sein in allem Seienden,
ist also dynamisch, weil es nicht an Worte und Begriffe anhaftet.
Wunderbares Sein ist gleichbedeutend mit dem Leben in Glück,
jenseits von geistiger Anhaftung und der damit verbundenen Statik,
die durch das begriffliche Denken ausgelöst wird. Das substanzielle
Ich hingegen versucht durch Besitztümer und Macht das Ich zu
vergrößern, woraus die Gier entsteht, die unabhängig
davon, wie viel sie schon angehäuft hat, nach immer mehr strebt.
Der Bewusstseinszustand des substanziellen Ichs bewirkt, dass der
betreffende Mensch zum Sklave seiner eigenen Bedürfnisse wird,
wobei es keine Rolle spielt, ob es sich dabei um materielle oder
geistige Besitztümer handelt. Im Bewusstseinszustand von wunderbarem
Sein ist eine Rückkehr zum dualistischen substanziellen
Ich gleichbedeutend mit dem geistigen Tod. Es gibt, hat das Selbst
erst einmal diesen Bewusstseinszustand erfahren, nichts was hier
noch locken könnte, im Gegenteil, wird dieser Bewusstseinszustand
mit Freiheit gleichgesetzt, der Freiheit von den Begierden Gier
und Hass, deren Sklave das substanzielle Ich ist.
Aus dieser Freiheit
heraus entsteht Zen-Kunst, die, da sie keine gewollte Kunst des
substanziellen Ichs ist und sich daher nicht im Dualismus zwischen
Geist und Materie (Theorie und Praxis) äußert, eine kunstlose
Kunst darstellt, die nicht irgendwelchen Theorien oder Modeerscheinungen
anhaftet. Da das Ergebnis von mu-shin, ist sie immer unmittelbar
und authentisch Lebenskunst.
Zen-Meister Ryokan
(der nach seiner Erleuchtung nicht Abt eines Klosters wurde und
es vorzog als Eremit zu leben) drückte es in zwei Gedichten
so aus:
Ja, ich bin
ein Dummkopf,
lebe inmitten von Bäumen und Pflanzen.
Bitte fragt mich nicht
nach Illusion und Erleuchtung -
Dieser alte Mann lächelt einfach gerne
sich selber zu.
Ich wate mit nackten Füßen durch die Flüsse,
und bei schönem Frühlingswetter
trage ich einen Rucksack mit mir herum.
Das ist mein Leben
und die Welt schuldet mir nichts.
Wenn jemand
nach meinem Wohnsitz fragt,
antworte ich:
Am östlichen Rand
der Milchstraße.
Gleich einer ziehenden Wolke,
durch nichts gebunden:
Ich lasse einfach los,
gebe mich
in die Launen des Windes.
©
Jürgen Gad 2018
<< zurück
|